(Hinweis: Mittlerweile kommen Standentwicklungen bei mir nur noch relativ selten und bei wenigen Filmen zur Anwendung. Ich würde heute nur noch zu Standentwicklungen bei klassischen Emulsionen bis maximal 200 Iso empfehlen. Zum Pushen und für moderne Flachkristallfilme gibt es eindeutig bessere Entwickler.)
Außenstehenden mag die Entwicklung von photographischem Film und der eigentliche Prozess, der aus Licht Bilder macht, stellenweise oder gar komplett wie Hexenwerk, zumindest aber wie uraltes und kryptisches Geheimwissen von Alchemisten vorkommen. Männer und Frauen, die mit stinkenden Brühen panschen, die — mit an Pedanterie grenzender Genauigkeit — auf Temperaturen achten, verschiedenste Verdünnungen anlegen und unbekannte Zutaten zu selbigen geben, um am Ende das heiligste und zufriedenstellenste überhaupt zu bekommen: Ein Negativ.
Die Entwicklungstanks werden Gekippt, Geschüttelt oder gleich in Maschinen gespannt und unter genau eingehaltenen Temperaturen vollautomatisch rotiert. Entwicklertypen gibt es fast wie Sand am Meer, ob Feinkornentwickler, Feinstkornentwickler, Schnellentwickler, Ausgleichsentwickler oder Zwei-Komponenten-Entwickler. Ja, selbst mit Instantkaffee und Waschsoda lassen sich Filme entwickeln. Es gibt schier endlose Tabellen mit Entwicklungszeiten für jeden erdenklichen Entwickler, jeden erdenklichen Film und jede erdenkliche Filmempfindlichkeit. Die Entwicklungszeiten reichen dabei von einigen Minuten bis zu zwanzig oder mehr Minuten.
Ich möchte in diesem Artikel eine etwas andere Entwicklungsmöglichkeit beschreiben, die neben einer universellen Entwicklungszeit, einer ausgleichenden Wirkung auch relativ temperaturunabhängig ist. — Die Standentwicklung mit Agfa Rodinal, dem 1891 patentierten und damit ältesten photochemischen Produkt der Welt.
Bereits zu Beginn der Rodinal-Produktion warb Agfa mit der Möglichkeit zur Standentwicklung in Verdünnung 1+100. Trotzdem blieb diese wohl eher eine Spielwiese für Eigenbrötler und als Notlösung für unbekannte Filmtypen oder für Filme, die mit ungenauen bzw. unbekannten Belichtungszeiten verschossen wurden. Die lange Entwicklungszeit von ein oder zwei Stunden, schreckt aber wohl die meisten wohl eher kategorisch ab. Aber immerhin ist Rodinal unkaputtbar und selbst geöffnet schier unbegrenzt haltbar und bei einer hohen Verdünnung werden nur minimalste Mengen gebraucht. Wirtschaftlich betrachtet, wäre es daher ein sparsames Modell. Ich selber besitze eine offenbar fast hundert Jahre alte Flasche Rodinal und werde mit dieser definitv noch Entwickeln.
Der Vorgang ist dabei denkbar einfach, der Film ruht in der Entwicklerdose bei etwa 16-25° C (Selbst bei einer Standentwicklung würde ich mittlerweile von Entwicklungstemperaturen von bis zu 25° C abraten), für eine oder zwei Stunden in hochverdünntem (1+100 oder 1+200) Rodinal. Dabei ist es egal, ob es sich um einen Efke 25, einen stark gepushten Ilford HP5+, einen Kodak T-Max 3200p oder einen seit zwanzig Jahren abgelaufenen Orwo NP27 handelt. (Heute weiß ich, daß für lange abgelaufene Filme eine Standentwicklung in Rodinal eine schlechte Lösung ist. Der Film foggt unweigerlich zu.) Der Entwickler entwickelt die Filme langsam aus, bis er nach etwa zwei Stunden erschöpft und unbrauchbar ist. (Rodinal wird schon nach einer Stunde relativ tot sein.) Dadurch ist es möglich, etwa einen um zwei oder drei Blenden unterbelichteten Iso-400-Film zusammen mit einem Iso-50-Film in einer Entwicklungsdose zu entwickeln. Das ist mit anderen Entwicklern nicht möglich. (Mit Diafine ist es ebenfalls möglich.) Einge unterscheiden bei dieser Entwicklungsart zwischen einer reinen Standentwicklung (keine Bewegung der Entwicklerdose) und einer Semi-Standentwicklung (Dose wird kurz bewegt), dies halte ich jedoch für angewandte Haarspalterei. Zusätzlich gibt es auch Menschen, die auf eine Entwicklungszeit von zwölf bis vierundzwanzig Stunden oder gar einigen Tagen schwören. Chemisch ist Rodinal nach einigen Stunden tot und somit sind diese Entwicklungszeiten wohl eher unter esoterischen, als wirklich objektiven Gesichtspunkten zu betrachten. Ich selber sehe bei einigen Filmen noch einen geringen Unterschied zwischen einer und zwei Stunden Entwicklungszeit, aber derart extreme Zeitspannen bringen keinen Gewinn.
Die größte Erfahrung habe ich mit dieser Entwicklungsmethode mit dem HP5+, einem gutmütigem Iso-400-Film der Firma Ilford. (Mittlerweile mit Efke KB50.) Dieser lässt sich ohne weiteres bei einer Standentwicklung auf bis zu 3200 Iso pushen (Es funktioniert, ja. Aber es gibt für starkes Pushen eindeutig bessere Entwickler.) und zeigt dabei zwar ein deutliches, aber immer noch angenehm weiches, fein akzentuiertes Korn.
Dabei sollte aber erwähnt werden, daß es Filme gibt, die gut mit dieser Entwicklungsform funktionieren und einige, die weniger gut mit ihr zurechtkommen. Der gerade erwähnte Ilford HP5+ etwa bildet kräftige Negative mit schönem Korn, der FP4+ des gleichen Herstellers neigt hingegen zu leicht flauen Tonwerten und sollte eher leicht gepullt als gepusht werden. (Ich habe auch gute gezeichnete Negative mit einem FP4+ bekommen, dies verdeutlich nur das Standentwicklungsroulette.) Diese etwas flauen Negative lassen sich natürlich ohne Probleme per digitaler Bildbearbeitung korrigieren. Auch gibt es große Unterschiede bei modernen Flachkristallemulsionen, so gelingt ein Ilford Delta 100 mit schönen Tonwerten und recht feinem Korn, ein Delta 400 hingegen entwickelt auch ohne Push sehr starkes Korn. Aber hier entscheidet wohl der persönliche Geschmack und viel, viel Ausprobieren. (Bei Flachkristallemulsionen rate ich von Rodinal und auch von einer Standentwicklung mit Rodinal ab.)
Aber kommen wir zu einer detailierten Beschreibung der ganzen Magie. Wie bei vielen Dingen, gibt es hunderte Wege nach Rom, so auch bei der Standentwicklung. Ich möchte nur meinen Weg beschreiben, Experimentieren ist erwünscht.
Nach dem Einspulen des Films oder der Filme in den Entwicklungstank folgt die Vorbereitung des Entwicklers. Ich entwickle grundsätzlich in einer Verdünnung von 1+100, also einem Teil Entwickler und hundert Teile Wasser, höhere Verdünnungen sind ebenfalls möglich. Zum Abmessen benutze ich übrigens eine 10-ml-Spritze, das ermöglicht eine sehr genaue Dosierung. Ich wässere den Film nicht vor, einige tun dies um den Film aufzuweichen und dem Entwickler das Eindringen in die Emulsion zu vereinfachen. Das mag bei kurzen Entwicklungszeiten Sinn machen, bei zwei Stunden Standzeit aber weniger. So bald der Entwickler im Entwicklungstank ist, kippe ich die Dose fünfzehn Mal in dreißig Sekunden, stoße sie, um etwaige Luftblasen vom Film zu lösen, auf einen festen Untergrund und lasse sie für eine Stunden ruhen. Nach einer Stunde kippe ich noch einmal acht Mal in fünfzehn Sekunden, stoße den Tank auf und lasse selbigen noch einmal eine Stunde ruhen. Danach wird normal gestoppt (Ich tendiere mittlerweile dazu, bei Standentwicklungen nur zu Wässern, da der Entwickler sowieso chemisch tot ist.), fixiert und gewaschen.
Sicherlich wird sich jetzt der ein oder andere Fragen, warum man allen Ernstes zwei Stunden einen Film entwickeln sollte, vor allem, wenn Rodinal in den Verdünnungen 1+25 oder 1+50, sowie andere Entwickler dies in einem Bruchteil der Zeit erledigen können. Nun, Filme, die in Rodinal-Standardverdünnung entwickelt werden, entwickeln neben der für Rodinal typischen hohen Schärfe auch eine sehr hartes Korn. Hochverdünntes Rodinal entwickelt den Film hingegen noch etwas schärfer, wirkt ausgleichend und erzeugt weitaus weicheres und angenehmeres Korn. Zusätzlich glaube ich, daß gerade bei der analogen Photographie der Faktor Zeit eine eher untergeordnete Rolle spielt. (Tut es immer noch, ich nehme aber von zwei Stunden dauernden Entwicklungen mittlerweile eher Abstand) Entscheidet man sich für eine analoge Kamera und Film, so entscheidet man sich auch für ein gewisse Langsamkeit und gegen das Serienbild-Dauerfeuer moderner Digitalkameras, gegen das sofort sichtbare und beliebig lösch- und kopierbare Digitalbild. Jedes Negativ ist ein absolutes Unikat und ich finde, man sollte diese mit Liebe und Gedult behandeln. Durch langsames und bewusstes Arbeiten, Herzblut wenn man möchte, bekommt eine Photographie einen ganz anderen Wert als ein in wenig Millisekunden geschriebenes Digitalbild.
Vielleicht ist es ein wenig das Gleiche, wie es Marit und Julia im Artikel zu analogen Abzügen beschrieben haben. Die beiden waren für ganze fünf Abzüge fünf Stunden in ihrer Dunkelkammer. Fünf digitale Bilder hätten die beiden wohl in keinen fünf Minuten Drucken können, aber es würde einfach etwas fehlen: Das Erlebnis der analogen Photographie. (Analoge Photographie lässt sich allerdings auch ohne stundenlange Entwicklungszeiten erleben.)
(Der letzte Absatz ist etwas aus dem Zusammenhang gerissen, da dieser Artikel ursprünglich in einem Blog erschienen ist, der u.a. auch einen Artikel über Dunkelkammerarbeiten beinhaltete.)
Und ja, die große Zeit der Filmphotographie ist vorbei und es versteht sich per se, daß es keine neuen Investitionen und Inovationen auf diesem Gebiet mehr geben wird. (Angesichts der Wiedergeburt von Ferrania und den Produkten von CineStill Film, streiche ich diese Aussage. Trotzdem bleibt der analoge Markt ein Nischenmarkt, weit unter den Umsätzen in der Hochphase der analogen Photographie.) Es ist etwas für Liebhaber und begeisterte geworden, für ein wenig positiv verrückte, die mit dem Herzen bei der Sache sind. Die letzten großen neuen Entwicklungen wie etwa Kodaks Feinkornentwickler Xtol stammen aus den späten neunziger Jahren, also der Endphase des analogen Massenmarkts. Aber trotzdem ist der Charme dieser Technologie und eines so alten Produkts wie Rodinal, samt dieser eher ungewöhnlichen Entwicklungsart, für mich ungebrochen. Und vielleicht habe ich bei dem ein oder anderen das Interesse an der Entdeckung der großen Langsamkeit geweckt.